Zwischen Kontrollverlust, Loyalitätsbruch und digitaler Zeitenwende – wie Gallup, Kultur und KI die Spielregeln von Führung radikal neu schreiben.
Einleitung
Die Zahlen sind eindeutig – und sie sind ein Weckruf: Laut Gallup-Studie 2025 sind nur noch 12 % der Führungskräfte in Deutschland engagiert bei der Arbeit, europaweit kaum besser. Und das bleibt nicht folgenlos: Bis zu 70 % des Mitarbeiterengagements hängen direkt vom Verhalten der Führungskraft ab. Wer oben nicht brennt, hinterlässt unten Schatten. Auch bei den Mitarbeitenden sinken Motivation, Bindung und Vertrauen. Was wir erleben, ist kein zyklischer Durchhänger – es ist eine strukturelle Erosion von Führung, Verantwortung und Sinn.
Gleichzeitig drückt der nächste große Hebel in die Organisationen: Künstliche Intelligenz übernimmt mit rasanter Geschwindigkeit jene Aufgaben, die bislang das Rückgrat klassischer Führung bildeten – Koordination, Planung, Information, Entscheidung. Was bleibt von Führung, wenn die Maschine schneller entscheidet, präziser plant und fehlerfreier kommuniziert? Und was bedeutet das für eine europäische Arbeitskultur, die lange auf Stabilität, Sicherheit und Loyalität gebaut hat?
Dieser Artikel zeigt, woher die Krise wirklich kommt, warum sie sich in Europa besonders scharf zeigt – und welche strategischen Entscheidungen jetzt anstehen. Denn zwischen Dauerkrise und Disruption liegt eine seltene Chance: Führung neu zu denken – nicht als Macht, sondern als Möglichkeitsraum.
Die Symptome: Was die Zahlen zeigen – und was sie verbergen
Die Gallup-Daten sind nicht einfach schlechte Laune in Tabellenform – sie markieren eine dauerhafte, tiefgreifende Störung in der Beziehung zwischen Organisation und Mensch. Besonders in Europa. Die wichtigsten Symptome lassen sich klar benennen:
Engagement auf dem Tiefpunkt
Nur noch 12 % der deutschen Führungskräfte zeigen laut Gallup ein hohes Engagement. Europaweit liegt der Schnitt bei gerade einmal 13 %. Zum Vergleich: In Nordamerika liegt der Wert bei fast dem Doppelten.
Warum das entscheidend ist? Weil Führungskräfte laut Gallup bis zu 70 % des Mitarbeiterengagements direkt beeinflussen. Wenn die Führung ausbrennt oder innerlich kündigt, zieht sie ganze Teams mit in die Apathie.
Hoher Stress, geringe Lebensqualität
Während weltweit 33 % der Beschäftigten ihr Leben als „gut“ bewerten, liegt Deutschland mit 45 % zwar höher – aber unter der Oberfläche brodelt es. Täglicher Stress betrifft über 40 % der Arbeitnehmer, Tendenz steigend. Die Lebenszufriedenheit bleibt formal stabil – doch die psychische Resilienz sinkt. Immer mehr Menschen funktionieren, aber sie fühlen sich nicht mehr verbunden.
Ursachenanalyse: Die Bruchlinien europäischer Führungskultur
Was wir heute beobachten – Rückzug, Erschöpfung, Dienst nach Vorschrift – ist nicht spontan entstanden. Es ist das Ergebnis von jahrzehntelangen Entwicklungen, die in Summe ein gefährliches Gemisch erzeugt haben: Verantwortung ohne Gestaltungsspielraum, Vertrauen ohne Gegenseitigkeit, Innovation ohne Fehlerkultur. Drei Ebenen prägen diese Krise.
Systemisch: Wenn Gutenberg keine Antwort mehr gibt
Der Ökonom Erich Gutenberg verstand Führung als notwendige Reaktion auf zunehmende Arbeitsteilung. Koordination, Entscheidung, Struktur – diese Funktionen rechtfertigten Führungsrollen im industriellen und bürokratischen Zeitalter. Doch mit der Digitalisierung verschwinden genau diese Aufgaben zunehmend aus dem menschlichen Handlungsspielraum: Planung übernimmt Software, Reporting wird automatisiert, Koordination funktioniert in Echtzeit über Systeme.
Wenn aber Koordination automatisiert wird und Entscheidungen datenbasiert durch KI vorbereitet oder getroffen werden, verliert Führung ihre funktionale Notwendigkeit. Was bleibt, ist oft eine Hülle aus Status, Kontrolle und Verantwortungsdiffusion. Das schwächt nicht nur die Motivation der Führungskräfte selbst, sondern untergräbt ihre Legitimität in den Augen der Mitarbeitenden. Führung wird zur Blackbox ohne Wirksamkeit – sichtbar, aber zunehmend überflüssig.
Kulturell: Die Entwertung von Verantwortung
Europa hat eine lange Tradition des Humanismus, der Mündigkeit und des Gleichheitsgedankens. In der Arbeitswelt bedeutet das hohe Standards: Fairness, Mitbestimmung, soziale Sicherheit. Doch mit dem berechtigten Streben nach Absicherung ging ein schleichender Verlust einher: Verantwortung wird nicht mehr als Gestaltungsmacht verstanden, sondern als Risiko, das man besser vermeidet.
Führungskräfte sollen heute alles gleichzeitig sein: empathische Coaches, moralisch integre Vorbilder, agile Möglichmacher – und gleichzeitig präzise KPIs liefern, juristische Haftung übernehmen, alle Stakeholder zufriedenstellen. Die Rolle ist überfrachtet, aber strukturell entmachtet. Parallel dazu haben auch viele Mitarbeitende gelernt, Verantwortung abzugeben – an Prozesse, an Strukturen, an „die Organisation“. Entscheidungen werden vermieden, Fehler sind karriereschädlich. Am Ende funktioniert das System noch – aber es lebt nicht mehr.
Diese kulturelle Verschiebung erzeugt eine paradoxe Situation: Alle sprechen von Empowerment, doch kaum jemand will entscheiden. Die Folge ist kollektive Absicherung – auf Kosten von Geschwindigkeit, Innovation und unternehmerischem Mut.
Historisch: Die fünf Bruchlinien der modernen Arbeitswelt
Die gegenwärtige Führungskrise lässt sich nicht ohne Blick auf ihre historischen Brüche verstehen. Jeder dieser Einschnitte hat ein Stück des alten Führungsnarrativs zerstört – und in Summe zu einem kulturellen Kontrollverlust geführt.
Die Finanzkrise 2008 war der erste große Knacks. Viele Beschäftigte erlebten erstmals, dass Leistung, Loyalität und Identifikation keinen Schutz bieten. Entlassungen trafen nicht nur die „Low Performer“. Das Vertrauen in das Sicherheitsversprechen von Unternehmen ging verloren – ein psychologischer Vertrag wurde aufgekündigt, ohne dass ein neuer formuliert wurde.
Ab 2015 folgte die Agilitätsrhetorik. Unternehmen inszenierten sich als moderne, offene Organisationen mit Sinn, Empowerment und Selbstorganisation. Doch in der Realität blieb vieles beim Alten – Hierarchien wurden formal flacher, aber kulturell rigider. Mitarbeitende erlebten: Wer Neues wagt, verliert – wer sich anpasst, bleibt. Die Enttäuschung über diesen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit wirkte wie ein kulturelles Gift.
Mit der Corona-Pandemie 2020 verschob sich dann das gesamte Verhältnis von Präsenz, Kontrolle und Vertrauen. Führungskräfte verloren den unmittelbaren Kontakt zu ihren Teams. Viele Organisationen improvisierten digital – aber das Vertrauen in Nähe, Zusammenhalt und Wirksamkeit nahm Schaden. Die Erfahrung, allein zu arbeiten und allein zu bleiben, hat sich tief eingebrannt.
Seit 2022 schließlich erleben wir eine Dauerkrise – Krieg, Energieknappheit, Inflation, Lieferketten-Stress, Klimadringlichkeit. Führung ist seither nur noch selten strategisch. Sie ist zur Krisenkommunikation, zur Anpassung auf Sicht geworden. Langfristdenken wurde von Tagesgeschäft abgelöst.
Und spätestens seit 2023 ist der Loyalitätsbruch offensichtlich: Beschäftigte sehen, wie Unternehmen in Unsicherheit reflexartig abbauen, sparen, externisieren. Gleichzeitig fordern dieselben Organisationen „Wir-Gefühl“, Identifikation und Flexibilität. Das passt nicht zusammen. Die alte Erzählung – „Ich beginne meine Lehre hier und bleibe bis zur Rente“ – ist tot. Die neue ist noch nicht einmal ansatzweise formuliert.
Loyalität im Kollaps: Wenn das psychologische Band reißt
Lange galt in Europa ein unausgesprochener Deal: Wer sich für sein Unternehmen einsetzt, bekommt Stabilität zurück. Dieses psychologische Band – Loyalität gegen Sicherheit – bildete das Fundament für jahrzehntelange Karrieren, Bindung und Motivation. Doch dieser Vertrag wurde einseitig aufgekündigt. Nicht laut, sondern schleichend – durch Entlassungswellen, befristete Verträge, Reorganisationen und Management-Rhetorik ohne Substanz.
Viele Mitarbeitende spüren heute, dass ihr Engagement nicht mehr mit Vertrauen belohnt wird, sondern bestenfalls mit Effizienzsteigerung. Gleichzeitig erwarten Organisationen weiterhin Verfügbarkeit, Identifikation und Loyalität. Das erzeugt eine kognitive und emotionale Dissonanz, die auf Dauer zu innerem Rückzug führt. Wer sich nicht gesehen fühlt, sieht sich irgendwann selbst nicht mehr als Teil des Ganzen.
Besonders dramatisch wirkt sich dieser Loyalitätsverlust in Führungspositionen aus. Dort prallen die Erwartungen der Organisation und die Realität des Systems direkt aufeinander. Führungskräfte sollen motivieren, coachen, moderieren – und gleichzeitig selbst unter massivem Druck funktionieren. Sie sind strukturell vereinzelt, oft ohne echte Peergroup, ohne psychologisches Sicherheitsnetz. Die Folge: Viele steigen aus. Leise, aber konsequent.
Gleichzeitig wächst in der nachrückenden Generation die Skepsis gegenüber Organisationen insgesamt. Die Vorstellung, dass Arbeit Sinn, Zugehörigkeit und Stabilität bringt, ist für viele nicht mehr glaubwürdig. Warum soll ich mich binden, wenn es keinen Gegenwert gibt? Warum soll ich mich engagieren, wenn ich austauschbar bin? Das Narrativ von der Organisation als Heimat hat ausgedient – ohne dass ein neues entstanden wäre.
Diese Entwicklung hat weitreichende Folgen: Sie senkt die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Sie lähmt Innovationsprozesse, weil niemand mehr die emotionale Sicherheit verspürt, etwas zu riskieren. Und sie schwächt die Attraktivität von Führungsrollen fundamental. Wer führt, steht heute mit einem Bein im Burnout und mit dem anderen im Compliance-Protokoll.
Europa steht damit vor einem strategischen Dilemma: Die Strukturen verlangen Loyalität – aber sie erzeugen kein Vertrauen. Und genau an dieser Stelle entscheidet sich, ob Organisationen in der Lage sind, die nächste Welle der Transformation – Digitalisierung, KI, Dezentralisierung – überhaupt noch mit Menschen zu gestalten. Oder ob sie zu reinen Funktionssystemen verkommen, in denen niemand mehr freiwillig Verantwortung übernimmt.
Das verschobene Leistungsparadigma: Zeit ≠ Wert
Über Jahrzehnte hinweg war die Logik der Leistung einfach: Wer viel arbeitet, leistet viel. Wer lange bleibt, zeigt Einsatz. Wer permanent erreichbar ist, signalisiert Führungskraft. Zeit war gleich Leistung – und Leistung war gleich Wert. Diese Formel prägte Arbeitsverträge, Vergütungssysteme und auch das Selbstbild ganzer Generationen. Doch diese Gleichung geht heute nicht mehr auf – und sie wird durch zwei Kräfte gleichzeitig ausgehebelt: Künstliche Intelligenz und kultureller Wandel.
Auf der einen Seite übernehmen KI-Systeme zunehmend Aufgaben, die früher mit großem zeitlichen Aufwand verbunden waren – Texterstellung, Datenanalyse, Entscheidungslogik, Kommunikation. Tätigkeiten, für die früher Stunden oder Tage eingeplant waren, erledigt ein gutes Prompting in Minuten. Wer immer noch die Stunde als Maßstab für Wertschöpfung anlegt, verkennt die Hebelwirkung, die digitale Systeme heute erzeugen können. Effizienz ist nicht mehr linear. Sie ist exponentiell – und damit ist auch der Zusammenhang zwischen Zeit und Leistung fundamental gestört.
Auf der anderen Seite bricht eine neue Generation in den Arbeitsmarkt, für die diese Entkopplung kein Kontrollverlust, sondern Selbstverständlichkeit ist. Für viele Angehörige der Generation Z zählt nicht mehr, wie lange man arbeitet, sondern was am Ende herauskommt. Wirkung ersetzt Präsenz. Hebelwirkung ersetzt Dauer. Und damit verändert sich auch die Vorstellung davon, wofür man bezahlt wird – für den Impact, nicht für die Mühe.
Das stellt bestehende Systeme auf den Prüfstand. Wenn jemand in zwei Stunden mit KI-Unterstützung ein besseres Ergebnis liefert als ein Kollege in zwei Tagen – wer „leistet“ dann mehr? Und wie vergüten wir das fair, ohne dabei den sozialen Kitt zu verlieren? Die bestehende Logik belohnt Fleiß und Verfügbarkeit – nicht Fokus und Effektivität. Doch genau diese neuen Kompetenzen werden in der vernetzten, digitalen Welt entscheidend.
Gleichzeitig steckt in diesem Paradigmenwechsel eine riesige Chance: Organisationen können Arbeit endlich neu denken. Nicht mehr über Präsenzpflicht, sondern über Ergebnisverantwortung. Nicht mehr über Kontrolle, sondern über Vertrauen. Nicht mehr über Linearkarrieren, sondern über Wirkung und Beteiligung.
Der Shift von „Zeit gegen Geld“ zu „Wert gegen Beteiligung“ könnte Europas kulturellen Ballast in einen strategischen Vorteil verwandeln – wenn er aktiv gestaltet wird. Doch solange Führung weiterhin auf Kontrolle statt auf Zielklarheit baut, werden die Talente von morgen nicht bleiben – und die Leistungsträger von heute innerlich kündigen.
Der Kipppunkt: Digitalisierung & KI als Zäsur
Die Digitalisierung war lange ein Versprechen. Mehr Effizienz, bessere Prozesse, neue Geschäftsmodelle. Doch mit dem Eintritt generativer KI und agentischer Systeme verändert sich die Spielanordnung grundlegend. Jetzt sind es nicht mehr nur Tools, die Prozesse unterstützen – sondern Systeme, die Entscheidungen treffen, Vorgänge automatisieren und Kommunikation steuern. Was hier passiert, ist nicht nur Prozessoptimierung. Es ist ein Machtwechsel im Maschinenraum der Organisation.
Wenn Algorithmen Meetings vorbereiten, Reports generieren, Team-Workflows optimieren, Entscheidungslogiken simulieren und Personalentwicklungspläne vorschlagen – was bleibt dann noch als originäre Aufgabe von Führung übrig? Der alte Dreiklang – planen, steuern, kontrollieren – wird zunehmend von Systemen übernommen, die schneller, fehlerfreier und kostengünstiger operieren als jeder Mensch. Die klassische Managementfunktion verliert an Substanz.
Doch genau an diesem Punkt entsteht eine strategische Weichenstellung: Entweder entwertet die Technologie Führung – oder sie befreit sie. Das Worst-Case-Szenario ist klar: Organisationen degradieren Führungskräfte zu Eskalations-Backups für Sonderfälle, zu Compliance-Wächtern und Personaladministratoren. Diese Rollen sind austauschbar – und das spüren die Menschen in ihnen. Die Folge: Demotivation, Burnout, Kündigung oder zynische Anpassung. Führung als struktureller Restposten.
Aber es gibt eine Alternative. Im Best Case wird genau diese Automatisierung zur Chance, Führung wieder auf ihren eigentlichen Kern zu konzentrieren: Menschen begleiten, Richtung geben, Kultur formen, Verantwortung ermöglichen. All das, was Maschinen nicht können – aber was Organisationen dringend brauchen, wenn sie mehr sein wollen als Prozessketten.
In diesem Szenario entsteht eine neue Führungsrolle: weniger operativ, aber tiefer strategisch. Weniger mikrosteuernd, dafür beziehungsstiftend. Weniger zahlengetrieben, aber konsequent wirkungsorientiert. Diese Art von Führung braucht andere Kompetenzen: Kontextintelligenz, Ethik, Ambiguitätstoleranz, Mut zur Unvollkommenheit – und die Fähigkeit, Systeme mit Menschen zu verbinden.
Dafür braucht es aber nicht nur neue Skills, sondern eine neue Haltung gegenüber Technologie. Wer KI nur als Effizienzhebel betrachtet, wird Führung am Ende überflüssig machen. Wer KI als Ermöglicher sieht, der gestaltet Räume für Verantwortung, Selbstwirksamkeit und echte Zusammenarbeit – gerade weil viele Routinen automatisiert werden.
Der Kipppunkt ist real. Die Richtung ist offen. Es liegt an uns, ob wir Führung künftig als menschliches Leitsystem zwischen Maschinen und Menschen verstehen – oder sie stillschweigend abschaffen.
Was jetzt nötig ist: Strategische Neupositionierung von Führung und Arbeit
Nach der Diagnose folgt der Umbau. Doch dieser Umbau lässt sich nicht mit kosmetischen Korrekturen erledigen. Neue Führungskräfteprogramme, Change-Workshops oder Feelgood-Kampagnen reichen nicht. Was Europa jetzt braucht, ist eine strategische Neupositionierung von Führung und Arbeit – strukturell, kulturell, technologisch.
Führung neu denken: Verantwortung statt Verwaltung
Führung muss sich von ihrer alten Identität als Schnittstelle zwischen Zielvorgabe und Kontrolle lösen. In einer durchautomatisierten Umgebung wird sie zum sozialen Sensor und strategischen Kontextgeber.
Das bedeutet: weniger Planung, mehr Priorisierung. Weniger Kontrolle, mehr Coaching. Weniger Repräsentation, mehr Verantwortung.
Führung wird zur verantwortlichen Instanz für Sinn, Haltung und Verbindung. Sie stellt nicht nur Fragen nach dem „Was“, sondern auch nach dem „Warum“ und „Für wen“. Das braucht nicht nur Soft Skills, sondern Klarheit, Konfliktfähigkeit und Entscheidungsstärke.
Vergütung und Bewertung an Wirkung koppeln – nicht an Anwesenheit
Solange Leistung nach Zeit abgerechnet wird, bleibt das System blind für Hebelwirkung. Neue Arbeitsmodelle – hybrides Arbeiten, KI-gestützte Aufgaben, asynchrone Wertschöpfung – brauchen ein anderes Messsystem. Nicht wer 40 Stunden absitzt, sondern wer Wirkung erzeugt, sollte im Zentrum stehen.
Das heißt auch: Vergütungssysteme müssen variabler, projektbasierter, beteiligungsorientierter werden. Unternehmen, die das konsequent umsetzen, stärken nicht nur die Motivation – sie verbessern auch ihre Innovationskraft und binden die besten Talente.
Organisationen als Möglichkeitsräume begreifen
Wenn Digitalisierung und KI Routineprozesse übernehmen, entsteht Raum für das, was Organisationen bisher zu wenig leisten: Lernräume, Experimentierräume, Dialogräume. Organisationen müssen sich entwickeln von geschlossenen Systemen der Stabilität zu offenen Systemen der Gestaltung.
Das bedeutet: mehr psychologische Sicherheit, mehr Fehlertoleranz, mehr Iteration. Führungskräfte müssen diesen Raum sichern – und sich selbst als Teil davon begreifen, nicht als Gatekeeper oder Abzeichner.
Technologie als kulturellen Hebel verstehen
KI darf nicht nur unter Effizienzkriterien eingeführt werden. Sie muss auch als Katalysator für Kulturwandel begriffen werden. Wer Prozesse automatisiert, hat die Pflicht, neue Formen der Zusammenarbeit und Entscheidungsverteilung aktiv mitzugestalten. Nicht nur Tools ausrollen – sondern Strukturen umdenken.
Die zentrale Frage lautet: Was ist künftig Aufgabe der Maschine – und was bleibt unteilbar menschlich? Nur wer diese Grenze bewusst zieht, schafft echte Human-Digital-Coexistenz.
Vertrauen neu verankern – durch Beteiligung
Loyalität entsteht nicht durch Appelle, sondern durch erlebte Beteiligung. Wer mitentscheiden darf, wer Verantwortung übernehmen kann, wer Fehler machen darf – der wird sich eher an ein Unternehmen binden als jemand, der nur funktionieren soll.
Vertrauen ist keine weiche Währung – es ist die Voraussetzung für jeden langfristigen Produktivitätszuwachs in dynamischen Systemen. Führung, die Kontrolle gegen Vertrauen eintauscht, gewinnt am Ende beides: Engagement und Ergebnis.
Europa zwischen Kontrollverlust und Gestaltungsreife
Die Zahlen sind eindeutig. Die Symptome klar benennbar. Die Ursachen nachvollziehbar. Und doch fehlt in vielen Organisationen der Mut, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Was in Europa derzeit als Führungskrise erscheint, ist in Wahrheit eine Konsequenz kultureller Selbstblockade, historischer Erschütterungen und technologischer Ignoranz.
Führung hat ihre Legitimation eingebüßt, weil sie im alten Muster verharrt: planen, kontrollieren, berichten, verwalten. Mitarbeitende haben sich distanziert, weil die Versprechen nicht mehr halten – Sicherheit, Sinn, Zugehörigkeit. Gleichzeitig verschiebt KI die Spielregeln – nicht nur operativ, sondern strukturell: Prozesse werden entmenschlicht, Entscheidungen ausgelagert, Effizienz entgrenzt.
In dieser Lage gibt es zwei Optionen. Entweder Europa bleibt in seiner kulturellen Verteidigungshaltung stecken – zwischen Regulierungsflucht, Perfektionskultur und Loyalitätsillusion. Dann wird Führung weiter entwertet, Innovation ausgebremst und Talente vertrieben. Oder Europa erkennt, dass genau in dieser Krise auch die historische Chance liegt, ein neues Verständnis von Führung, Arbeit und Wertschöpfung zu formulieren.
Nicht Kontrolle, sondern Kontext. Nicht Anwesenheit, sondern Hebel. Nicht Norm, sondern Orientierung. Nicht Machterhalt, sondern Möglichkeitsgestaltung. Das ist keine Utopie – es ist eine strategische Notwendigkeit.
Denn wer KI in Organisationen bringt, ohne Führung neu zu denken, erzeugt Systeme ohne Seele. Wer hingegen die Automatisierung nutzt, um menschliche Verantwortung neu zu definieren, kann den nächsten evolutionären Sprung machen – hin zu Organisationen, die nicht nur effizient, sondern auch anschlussfähig sind.
Ob dieser Sprung gelingt, hängt nicht von der Technologie ab. Sondern vom Mut, Führung endlich aus der Vergangenheit zu lösen – und sie in der Zukunft als das zu verankern, was sie sein sollte: der Ort, an dem Menschen Verantwortung übernehmen dürfen, weil sie es können – nicht weil sie es müssen.
Weiterführende Quellen
Gallup Global Workplace Report 2023/2024
Globaler Vergleich zu Engagement, Wohlbefinden und Führungseinfluss
https://www.gallup.com/workplace/349484/state-of-the-global-workplace.aspx
Gallup (Deutschland): Engagement Index 2023
Spezifische Auswertung für den deutschsprachigen Raum
https://www.gallup.com/de/470391/engagement-index-deutschland-2023.aspx
Deloitte Global Gen Z and Millennial Survey 2024
Erwartungen, Werte und Sorgen junger Generationen weltweit
https://www.deloitte.com/global/en/issues/work/genz-millennial-survey.html
WEF x PwC: The Future of Jobs Report 2023
Auswirkungen von KI und Automatisierung auf die Arbeitswelt
https://www.weforum.org/reports/the-future-of-jobs-report-2023/
OECD (2022): Skills for the Digital Transition
Bildung, Qualifikation und Resilienz in digitalisierten Ökonomien
https://www.oecd.org/skills/skills-for-a-digital-world/
SwissSkills Report 2023: Generation Z im Beruf
Erwartungen, Werteorientierung und Entscheidungsverhalten junger Talente
https://swiss-skills.ch/documents/Downloads/diverses/SwissSkills_Report_Gen_Z_2023_DE.pdf
Niklas Luhmann (1984): Soziale Systeme
Grundlagentheorie zur Systemsteuerung, Kommunikation und Organisation
ISBN: 978-3518284600
Fredmund Malik (2001): Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit
Systemorientiertes Managementverständnis im europäischen Kontext
https://www.malik-management.com/produkt/fuehren-leisten-leben
Erich Gutenberg (1951): Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre
Arbeitsteilung, Organisation und Steuerungslogik
[Literaturdatenbank z. B. via SpringerLink oder UTB]
Peter Drucker (1954): The Practice of Management
Führungsverständnis, Wirkung und Verantwortung
https://www.hbr.org/2005/06/what-makes-an-effective-executive
Henry Mintzberg (1979): The Structuring of Organizations
Analyse von Organisationstypen und Strukturprinzipien
https://mintzberg.org/books
European Commission: Digital Education Action Plan (2021–2027)
EU-Strategie für Bildungsreform im digitalen Wandel
https://education.ec.europa.eu/focus-topics/digital/digital-education-action-plan
Allianz Global Wealth Report 2023
Ökonomische Unsicherheiten, Wohlstandsentwicklung und Zukunftserwartungen
https://www.allianz.com/en/economic_research/publications/specials_fmo/230919_Global-Wealth-Report.html
McKinsey (2023): Europe’s Turning Point – How to Build a More Resilient Future
Strategiepapier zu Europas wirtschaftlicher Zukunft und globaler Positionierung
https://www.mckinsey.com/capabilities/strategy-and-corporate-finance/our-insights/europes-turning-point
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